Ulrike Herrmann über Anfang und Ende des Kapitalismus – eine Zusammenfassung

Ulrike Herrmann: “Vom Anfang und Ende des Kapitalismus” (Vortrag vom 07.12.16)

„Vom Wesen und Unwesen des Kapitalismus“

Unter dem Banner “attac Perspektive” folgten am 07. Dezember etwa 200 Leute Ulrike Herrmanns Vortrag “Vom Anfang und Ende des Kapitalismus” im gut gefüllten Hörsaal an der Universität Paderborn. Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin bei der Berliner taz, referierte lebhaft über die Geschichte und die Entstehung des Kapitalismus, über seine Charakteristika und Folgen. Sie erklärte, warum Geld nicht Kapital sei, und schließlich warum Kapitalismus ohne Wachstum nicht funktionieren kann. Dabei gelang es ihr, auch komplexe Wirtschaftszusammenhänge allgemeinverständlich darzulegen und mit anschaulichen Beispielen zu belegen.

Herrmanns Anfangsthese lautete: „Kapital ist nicht Geld“. Die Geschichte von Geld und Schuldscheinen reiche schon Jahrtausende zurück, im Gegensatz zur Geschichte des Kapitalismus. So seien bereits im alten Mesopotamien Schuldscheine als Zahlungsmittel verbreitet gewesen und selbst die Schrift diente ursprünglich vor allem zur Verschriftlichung von Schulden. Allerdings fehlten den Mesopotamiern, wie allen nachfolgenden, stagnierenden Agrargesellschaften, wichtige Bestandteile des Kapitalismus: Innovation und Wachstum, die entscheidenden Triebfedern im Kapitalismus.

„Warum“, fragte Herrmann, „entstand der Kapitalismus ausgerechnet um 1760 in England?“. Und zwar ungesteuert und chaotisch? Dies sei eine der bestuntersuchten Fragen der Wirtschaftsgeschichte. Herrmanns Antwort: hauptursächlich waren die hohen englischen Löhne. Dadurch habe sich die Warenproduktion verteuert und um im Außenhandel konkurrenzfähig zu bleiben, investierten (=Kapital) findige Tüftler und Handwerker Geld und Zeit in einfache Maschinen (z.B. modernere Webstühle), um die teure menschliche Arbeit zu ersetzen. Die wichtigsten Triebfedern des Kapitalismus waren geboren: Innovationen bedingt und ermöglicht durch hohe Löhne, die wiederum für den Warenabsatz entscheidend waren. Dieses setzt eine Kettenreaktion in Gang. Immer wieder insistierte Herrmann: hohe und nicht niedrige Löhne seien förderlich für Wirtschaftswachstum, und zugleich dessen Voraussetzung.

Der Kapitalismus durchziehe die gesamte Gesellschaft, so Herrmann. Er sei eine absolute Wirtschaftsform und dringe in alle Lebensbereiche vor. Wie oben beschrieben, benötigt der Kapitalismus Wachstum. Zugleich erzeuge er Wachstum und damit unseren Wohlstand, der sich wiederum als eine Grundlage für Demokratie und die politische Durchsetzung von Gleichheit ausmachen ließe, so Frau Herrmann weiter. Durch den stetigen technischen Fortschritt im Kapitalismus wird eine höhere Bildung benötigt, durch den gestiegenen Wohlstand aber auch ermöglicht. Steigende Bildung, Lebenserwartung und Wohlstand befinden sich somit auf der Haben-Seite des Kapitalismus.

Geld entstehe im Kapitalismus, wie auch schon bei den alten Mesopotamiern, aus dem Nichts und sei auch Nichts. Mit anderen Worten: Nicht Geld, sondern die Menge der verfügbaren Waren und Dienstleistungen sei das Maß für gesellschaftlichen Wohlstand, die Triebkräfte seien Investitionen und Innovationen.

Weiter begründete sie, warum der Kapitalismus ihrer Meinung nach nichts mit einer freien Marktwirtschaft gemein habe. Sie sprach von einer „dezentralen Konzernplanwirtschaft“, welche zwingend vom Staat abhängig sei. Wettbewerb bestehe derzeit nur in Nischen, bei Unternehmensgrößen von ein bis zehn Mitarbeitern.

Der größte Teil der Wertschöpfung finde aber in transnationalen Konzernen statt, die sich ihre Märkte bereits im Vorfeld aufteilten und vom Staat hochsubventioniert seien. Beispielsweise seien bereits bei der Einführung der Glühbirne im 19. Jahrhundert durch AEG Absprachen mit Siemens, dem einzigen möglichen Konkurrenten, und der Stadt Berlin als Hauptabnehmer getroffen worden. Der Markt wurde also aufgeteilt, bevor er überhaupt entstehen konnte. Zudem seien die großen, lukrativen Märkte weitgehend aufgeteilt. So habe etwa von den 30 Dax Konzernen der größte Teil schon im 19. Jahrhundert zu den größten Unternehmen gezählt. Weiter profitierten die Konzerne enorm durch den Staat, welcher u.a. die für sie notwendige Bildung und Forschung sowie die Absatzmärkte überhaupt erst garantiere.

Der Kapitalismus sei aber auch krisenanfällig. Beispiel: die Entstehung der Weltwirtschaftskrise von 1929. Im Jahre 1924 habe ein enormes wirtschaftliches Wachstum in den USA eingesetzt, die Produktion stieg um etwa 40%. Bei gleichzeitig stagnierenden Löhnen sei eine riesige Überproduktion entstanden, die einen Investitionsstopp und schließlich die Erlahmung der Industrie zur Folge gehabt habe. Investitionen seien lediglich noch an der Börse getätigt worden, bis es schlussendlich 1929 zum Crash kam.

In der jüngeren Vergangenheit, so Herrmann, haben wir drei schwere Wirtschaftskrisen erlebt: die Dotcom-Krise (2001), die große Hypothekenkrise (2007) und die Eurokrise (2010). Eine vierte stünde kurz bevor, begründet in einem riesigen Kapitalberg, welcher nicht investiert wird und drohe, das System zum Kollaps zu bringen. Mahnend fügte sie an, dass die Löhne in der USA seit 1975, in Japan seit 1990 und in Deutschland seit 2000 stagnierten.

In den letzten zehn Minuten des Vortrages kam die studierte Wirtschaftshistorikerin auf das Ende des Kapitalismus zu sprechen. Der Kapitalismus stecke aktuell in einer großen Krise, sein Ende sei unausweichlich. Dem stetigen Wachstum und der Ausweitung auf immer neue Märkte und Lebensbereiche seien natürliche Grenzen durch eine begrenzte Verfügbarkeit von Ressourcen und starke Umweltbelastungen gesetzt. Mit wenigen drastischen Worten zeichnete sie hier das dystopische Bild einer möglichen post-kapitalistischen Gesellschaft, die ohne das kapitalistische Produktionspotential auf ein vormodernes technisches Niveau zurückgeworfen sein könnte.

Gleichzeitig gäbe es aber Wege den Mechanismen der Globalisierung und der Niedriglöhne innerhalb des Kapitalismus entgegenzutreten. Sie erinnerte an die vielen vorgeschlagenen Modelle jenseits der kapitalistischen Wirtschaft (Stichwort: Postwachstumsökonomie). Warnend merkte sie aber an, es fehle an Transformationstheorien für den Weg vom Kapitalismus in eine neue, nachhaltigere Wirtschaftsform. Ohne diese Strategien erfolge der Ausstieg aus dem Kapitalismus chaotisch (hinkendes Beispiel: Griechenland), und nicht unbedingt friedlich. Bereits kleine Wachstumseinbrüche könnten das bestehende System in schwierige Fahrwasser bringen. Daher müssten sich vor allem die Top-Ökonomen fokussiert mit dem Ausstieg aus dem Kapitalismus auseinandersetzen. Es sei tragisch, so Herrmann, dass dies vernachlässigt würde.

Am Ende bemühte sich die Referentin allerdings, den Anwesenden etwas Positives mit auf den Weg zu geben. Womöglich, so Herrmann, würde ein neues Wirtschaftssystem genauso unbemerkt und ungeplant entstehen, wie der Kapitalismus selbst, der selbst unvermittelt und ungeplant einsetzte.

Insgesamt war es Ulrike Herrmann gelungen, ihre Zuhörer mitzunehmen auf eine anschauliche Reise durch die Geschichte des Kapitalismus. Sie vermochte zu erklären, was Kapitalismus eigentlich ist, welche Mechanismen ihm innewohnen und sowohl seine Errungenschaften als auch seine wesentlichen katastrophalen negativen Folgen zu erörtern. Gleichwohl war der Vortrag nicht darauf ausgelegt, vertiefende Kenntnisse in aktuellen ökonomischen Theorien zu erlangen. Dies überließ Herrmann den universitären Lehrstühlen, die immer wieder ihre grundsätzliche Kritik abbekamen, und insbesondere die kritische Auseinandersetzung mit dem Ende des Kapitalismus, mit Ausstiegsszenarien und Transformationstheorien sträflich vermissen ließen. Vielmehr mag es als Verdienst ihres Vortrages angesehen werden, den Finger in die Wunden einiger riesiger/fundamentaler Denkfehler ökonomischer Grundannahmen zu legen. Dabei merkte man auch als ökonomischer Laie deutlich, wie ihr die von ihr bewunderten Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes immer wieder sekundierten.