Leserbrief zu Pulse of Europe (2)

Es ist schade, dass Pulse of Europe (PoE) keine Verwendung für echte politische Inhalte zu haben scheint. Dabei ist es ist natürlich schön in einem Europa zu leben, das kaum noch intrakontinentale Kriege mehr kennt. Und überall hinreisen zu können, ist ebenfalls schön. Genauso wie dort mit demselben Geld zu zahlen und ggf. im Ausland zu studieren. Und es ist schön all dies einmal öffentlich auszusprechen. Richtig so!
Aber weiter geht es bei PoE nicht. Es soll bei PoE erklärtermaßen auch nicht weitergehen. „Für eine inhaltliche Fokussierung ist es zu früh“ erklärte der berliner PoE-Organisator Dr. Alexander Freiherr Knigge, Anwalt für Wettbewerbsrecht (!). Und damit spielt die „Bewegung“ den Rechten und den (wirtschaftlich) Mächtigen in die Hände. 
Denn vieles liegt im Argen in dieser schönen Idee eines friedlichen, gemeinsamen Europa und auch bei PoE. Man muss sich nur einmal die Hintergründe der PoE Organisatoren in Frankfurt a.M. (!) ansehen, um eine Ahnung zu bekommen, wessen Lied dort gesungen wird. Anwälte von Kanzleien, die sich mit Öffentlich-Privaten-Partnerschaften, Personalabbau und Massenentlassungen beschäftigen (Greenfort-Kanzlei, Dr. Daniel Röder, Kopf der „Bewegung“) oder mit Bank- und Kapitalmarktrecht (SNP Schlawien-Kanzlei, Moritz Pohle, PoE Freiburg). Natürlich sind das nur Indizien, Ansätze für Verschwörungstheorien, wenn man so will, aber ein schaler Beigeschmack bleibt. Und diese Wirtschaftsfachanwälte in der Frankfurter PoE-Zentrale geben den lokalen Organisatoren vor, was veröffentlicht werden darf – bis hin zum Aufruftext für die Demo selbst. Ferner dürfen (in Paderborn) nur handverlesene Redner an das Mikrofon. Eine Graswurzelbewegung sieht anders aus! Und das alles ist getarnt als ein Kampf von „Pro-Europäern“ gegen (rechte) Europafeinde.
Aber warum kann denn die Europafeindin Marine LePen sagen, sie wolle „nicht die Vizekanzlerin von Angela Merkel sein“? Naja, weil in dieser Aussage eine Menge Wahrheit über die EU steckt. Kein Land der Eurozone kann mehr eine unabhängige Wirtschaftspolitik machen. Nicht einmal das mächtige Frankreich. Und die von Deutschland verordnete Spar- und Wettbewerbs- und Niedriglohnpolitik wirkt sich auf sehr viele Menschen und viele Staaten in Südeuropa, inklusive Frankreich, ruinös aus.
Auf der anderen Seite gibt es keine europäische Volksvertretung, die substantiellen Einfluss auf die EU-Gesetze und damit auf die Wirtschaftspolitik nehmen kann. Mehr noch, der europäische Gesetzgebungsprozess ist wahnsinnig unübersichtlich, mit dem nicht öffentlichen (!) sogenannten informellen Trilogverfahren zwischen Parlament und EU-Rat unter Aufsicht der EU-Kommission, das mittlerweile wohl für den größten Teil Gesetze angewandt wird. Bitte sehen Sie sich das selber einmal an! Kein normaler Bürger vermag zu sagen, wer dort denn nun für ein Gesetz verantwortlich ist. Nur, wie soll denn ein demokratisches Votum in der repräsentativen Demokratie aussehen, bei dem der Bürger nicht weiß, wer was gemacht hat? Wo soll die demokratische Kontrolle, und damit die Legitimation, herkommen? Und das alles lässt noch außer Acht, dass es kaum Bürgereinfluss darauf gibt, wer denn nun diese EU-Kommission besetzt und dass die Minister im EU-Rat eigentlich für nationale und nicht für europäische Aufgaben gewählt sind. Aus letzterem ergibt sich ganz automatisch ein gewaltiger Interessenkonflikt.
Und hier ist es doch richtig, wenn immer gesagt wird, man dürfe dieses Feld nicht den Rechten überlassen. Aber dann muss natürlich auch aus der sogenannten Mitte der politischen Gesellschaft Kritik an diesen europäischen politischen Zuständen kommen. Stattdessen schwenkt ihr bei PoE Fahnen, singt die Europahymne (so schön sie auch ist!) und erzählt Euch Geschichten von Erasmus-Aufenthalten, usw. Gleichzeitig wird in der Öffentlichkeit immer wieder versucht, linke Kritik an den undemokratischen Zuständen entweder in die rechte Ecke zu stellen (z.B. Wagenknecht) oder sie tot zu schweigen (z.B. DIEM 25). Oder aber Vorschläge einer wirklich demokratischen, auch sozial und vielleicht sogar ökologisch ausgeglichenen, EU werden zu utopischen Träumereien erklärt. Dadurch aber spielt PoE den wirklichen Rechten in die Hände – und natürlich den Gewinnern des Status Quo.
Und damit sind wir wieder beim Anfang des Textes und der Frage, welche Mächtegruppen derart von einem unkontrollierten freien Personen-, Waren-, Geld- und Dienstleistungsverkehr (den „vier europäischen Grundfreiheiten“) profitieren, dass sie diese Freiheiten am liebsten in Europa und international (siehe CETA, TTIP, usw.) ausweiten möchten. Am Ende bleibt die zentrale Frage, die sich alle Bürger stellen sollten: Cui Bono? – Wem nützt das? Genauer: wem nützt es, wenn 500 Europabegeisterte die Ode an die Freude singen, anstatt zu fragen, wo der eigene bürgerliche demokratische Einfluss in Europa abgeblieben ist?
Und jetzt der Aufruf: wenn Ihr das nächste Mal zu PoE (oder Ähnlichem) geht, beschäftigt Euch in Euren Reden bitte auch mit den politischen Zuständen in Europa. Haltet Transparente hoch. Fordert echte europäische Demokratie ein. Wie wäre es denn mit der Forderung nach einer europäischen Verfassungsgebenden Versammlung? Vielleicht bestehend aus einem Teil Rechts- und Wirtschaftsexperten jeder politischen Färbung und einem überwältigenden Teil (ausgeloster) europäischer Bürger? Mit dem Ziel einer direkten europäischen Demokratie, mit maximaler Bürgerbeteiligung? Das wären doch mal wirklich  gute Gründe, um für Europa auf die Straße zu gehen.
Ohne solche Forderungen bleibt am Ende lediglich übrig, viel Spaß mit den LePens und Co dieser Welt zu wünschen.